unsuk chin - staunen und spiel
In Buenos Aires zu leben, bedeutet, ohne Unterbrechung von Kunst, Kultur, Musik umgeben zu sein, aktiv oder als Publikum. Die Bandbreite ist riesengroß, ein Abend kann gefüllt sein mit Folkloremusik oder Tango, am nächsten Tag geht es zu einer postmodernen Theaterperformance, dann folgt eine klassische Oper oder Ballett und wer noch nicht genug hat, kann sich noch ein zeitgenössisches Orchesterwerk im Teatro Colón anhören. Letzteres hat mich zur Komponistin dieses Monats gebracht, Unsuk Chin, denn eines ihrer Werke wird am 22. Juni 2024 im Teatro Colón vom Orquesta Filarmónica Buenos Aires aufgeführt unter dem Titel “Harmonielehre”, ein Abend voller zeitgenössischer Musik und was mich besonders freut: mit Musik einer Frau im Programm. 2022 arbeitete ich mit der Choreografin Elisabeth Schilling in einem Tanzprojekt zu György Ligetis Etüden, umso spannender als ich erfuhr, das Unsuk Chin eine seiner Student*innen in Hamburg war!
Unsuk Chin ist gebürtige Koreanerin, entdeckte mit bereits 2 Jahren das Klavier und zog mit Anfang 20 nach Deutschland, um dort bei György Ligeti Komposition zu studieren. In einem Interview erwähnt sie, dass der Kulturschock, die Stadt und die neuen Umstände es ihr fast unmöglich machten, zu komponieren, einige Jahre lang schrieb sie so gut wie keine neue Musik, Ligeti war so streng, so voller Erwartungen und verglich ihre Werke mit Mozart und Beethoven, was für sie als Studentin mental schwer auszuhalten war. Nach Ende des Studiums und einem Umzug in Berlin fühlte sie sich wieder freier, experimentierte mit Electronics als sie dort im Electronic Music Studio arbeitete.
Nun aber zum Beginn ihrer Liebe für die Musik: Unsuk Chin wollte eigentlich Pianistin werden, ihre Familie konnte sich jedoch keine Stunden leisten. Als ihr Schulmusiklehrer zur 13-jährigen Chin sagte, sie könne doch Komponistin werden, war sie zuerst traurig, weil es nach “Du kannst keine Pianistin sein” klang, aber kurz darauf lieh sie sich bereits Notenbände von Brahms, Beethoven und Co. aus, um zu lernen, wie man Partituren liest. Nach 6 Jahren selbsterlerntem Komponieren bewarb sie sich für die Musikuniversität in Seoul, wurde aber zwei Jahre lang nicht aufgenommen, erst beim dritten Mal bekam sie einen Studienplatz. 1985 kam sie schließlich nach Hamburg, um drei Jahre lang bei György Ligeti zu studieren, der gerade an seinen bekannten Klavieretüden arbeitete - eine Stadt, in der sie vor einigen Jahren als Composer in Residence in der Elbphilharmonie zurückkehrte. Das Auftragswerk Frontispiece, das sie in dieser Residency komponiert hatte, wird im Juni 2024 im Teatro Colón aufgeführt - ich werde berichten!
MUSIK ALS KÖRPERLICHE ERFAHRUNG
Auf die Frage nach der Tradition ihrer Musik, da sie ja Koreanerin sei, antwortet Chin, dass Musik für sie international sei, dass die musikalischen Phänomene, die sie interessieren, Ländergrenzen sprengen und sie eine körperliche Erfahrung im Klang sucht. Musiker*innen möchte sie herausfordern, an ihre eigenen Grenzen bringen, auch sie sollen die Musik nicht nur intellektuell sondern im Körper erfahren. Die musikalische Welt, aus der sie ihre Ideen nimmt, ist viel größer als nur eine länderspezifische Tradition. Wenn sie gelangweilt von einer Idee ist, springt sie zur nächsten, sie suche immer noch nach ihrer eigenen Sprache, weshalb jedes Stück etwas anders klingen würde.
Intensive arbeit mit Musiker*innen
Besonders spannend finde ich, dass Unsuk Chin versucht, so oft wie möglich mit den Orchestern intensiv vor Ort zu arbeiten, so erleichtert sie den Ensembles, die Musik zu verstehen und hört direktes Feedback ihrer Werke - denn Unsuk Chin schreibt alles per Hand, verwendet kein Notierprogramm, das einen per Knopfdruck die niedergeschriebenen Noten abspielt. Mit was sie jedoch keine Zeit verbringt, sind Kritiken über ihre Werke - diese werden nicht von ihr gelesen, sie macht sich sehr wohl Gedanken, wie ihr Publikum ihre Musik aufnehmen kann, aber lässt ein Publikum nicht im Fokus im Prozess des Komponierens stehen, es sei eine Arbeit für sich alleine, die nachher erst geteilt wird.
Ihr Arbeitsprozess ist vielschichtig, manchmal schreibt sie eine Woche lang an einem oder zwei Takten, die sieben Sekunden dauern, manchmal fließt es schneller, Pulsieren, Lebendigkeit, Körperlichkeit sind nur einige der Merkmale ihrer Musik.
Texturen, klarheit, transparenz - Klavier
Ähnlich ihres Maestros Ligeti schrieb auch Unsuk Chin Etüden für Solo Klavier, sechs Stück, sie werden als eine der anspruchsvollsten Klavieretüden im zeitgenössischen Klavierrepertoire angesehen. Jede einzelne der Etüden steht für sich, wie in Ligetis Etüden sind Chaos und Ordnung hörbar, Chins Etüden haben eine Klarheit in sich, die nicht mechanisch, sondern lyrisch und transparent. Besonders die Etude No.5 Toccata kann ich zum Anhören empfehlen.
Weitere solistische Klavierwerke schrieb sie kaum, das Klavierkonzert (1996) ist aber sehr zu empfehlen:
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Hier findest du die Gesamtausgabe der Etüden zu einem Preis von 28 Euro.
Über eine so produktive Komponistin könnte man wohl ein ganzes Buch schreiben, deshalb bleibe ich vorerst bei ihrem Klavierrepertoire und den interessantesten Details. Neben diesen Werken schuf sie jedoch auch eine Oper - ein besonders großes Unterfangen und mehrere Konzerte für Soloinstrumente und Orchester. Sie lebt momentan als freischaffende Komponistin in Berlin und ist immer wieder als Composer in Residence zu finden.
Quellen:
https://www.gramophone.co.uk/features/article/contemporary-composer-unsuk-chin
https://www.boosey.com/composer/Unsuk+Chin?sl-id=4
https://www.boosey.com/pdf/brochure/2754_14075.pdf
https://www.youtube.com/watch?v=mkFLPEdzvvs
https://www.youtube.com/watch?v=HR8UP3lVlJM
https://www.stretta-music.de/chin-piano-etudes-nr-642061.html