Rezension: 250 Komponistinnen von Arno Lücker
click here for the English version
Wie viele Komponistinnen kennst du? 2? 10? Alle, über die bis jetzt auf diesem Blog geschrieben wurde? Der Musikwissenschafter Arno Lücker kennt ganze 250 Komponistinnen - und hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie alle in einem Band zu sammeln. Der Verlag war so nett, mir ein Rezensionsexemplar zu schicken, damit auch meine Leser*innen von diesem Buch erfahren können:
Hildegard von Bingen - nicht nur Kräuter, ganze 77 Lieder!
Die letzte in diesem Buch vorkommende Person ist Hildegard von Bingen - vielen hier bestimmt bekannt, aber wie vielen wegen ihrer Lieder? Oder doch eher durch Heilkräuter? Geboren in eine Adelsfamilie trat sie mit 14 Jahren ins Kloster ein, wurde Äbtissin, reiste viel (und das vor über 900 Jahren!) und schrieb 77 (religiöse) Lieder und ein Mysterienspiel. Eines davon ist O Virtus Sapientie:
Dieses Buch ist nicht nur eine biografische Sammlung, vielmehr geht es hier um die Werke und die Musik der Komponistinnen, und das auf immersive Weise, denn neben Lesen wird auch Hören groß geschrieben: Ganz einfach über einen QR Code kommt man zu Videos und Playlists, die man sich nebenbei anhören kann - was absolut Sinn macht, denn ich möchte nicht nur ein Buch ÜBER Musik lesen, ich möchte auch die Klänge selbst erleben!
Genau das unterscheidet dieses Buch von vielen klassischen Biografien oder Sammlungen über Komponisten bzw. Komponistinnen. Abgesehen von der schier unendlichen (250 ist immerhin eine ambitionierte Zahl) Anzahl der Komponistinnen bekommt man eine nicht zu lange, aber informative Geschichte zur Persönlichkeit untermalt mit dem Wichtigsten: der Musik. Lücker behauptete in einem Interview, das Buch lese sich als Roman, dem kann ich nicht ganz zustimmen, da ich kein Narrativ, keine zusammenhängende Erzählung zwischen den 250 Kapiteln herauslesen kann. Gut lesbar ist es auf jeden Fall: Es ist leicht, augenzwinkernd, nicht trocken und darum für alle Menschen auch außerhalb der Musikwissenschaftsbubble eine wertvolle Ergänzung im Buchregal.
Bei 20 der vorgestellten Künstlerinnen haben wir das Glück, Portraits illustriert von Chiara Jacobs zu sehen, die ohne Farbe, aber dafür mit viel Gespür die Komponistinnen verbindlich hat.
MEINE HIGHLIGHTS
Chiquinha Gonzaga aus Rio de Janeiro, S.193
Für alle Pianist*innen gibt es hier einen der vielen Tangos von Gonzaga zum Mitspielen:
Unsuk Chin, S.257
Die südkoreanische Komponistin studierte in den 1980er Jahren in Deutschland Komposition bei Liegt, mit dem sie aber in einen künstlerischen Konflikt geriet. Vorgestellt wird ein Konzert für Violine und Orchester, das mit komplementärrhythmischen Marimbas und Steeldrums beginnt:
Mel Bonis, S. 60 (und hier am Blog)
Daneben findet man auch einige der Komponistinnen, die ich hier am Blog bereits vorgestellt habe, wie Louise Farrenc, Grażyna Bacewicz oder mein allererster Beitrag: Elisabetta de Gambarini.
Kritik? eine fehlende ordnung.
Was mir gefehlt hat, war eine gewisse Ordnung des Ganzen, um sich in diesem doch sehr dicken Buch besser orientieren zu können. Das Fehlen einer Chronologie finde ich recht spannend, so wird man immer wieder überrascht, da Musik aus dem Barock nun doch ganz anders klingt als zeitgenössische Werke und man nicht in einer Epoche kleben bleibt.
Dennoch wäre ein alphabetisches oder vielleicht sogar regionales Register hilfreich gewesen. Dabei kommen wir zu meinem nächsten Kritikpunkt, der ja vielleicht ein Anreiz für 250 Komponistinnen 2.0. ist: Wie in so vielen in Deutschland oder generell Europa erschienen Sammlungen ist die Auswahl der Komponistinnen recht eurozentrisch, was der Autor aber selbst zugibt, da er berufsbedingt der „Ernsten“ Musik aus Europa am nächsten ist.
Dennoch bemühte sich Lücker aber um die ein oder andere Komponistin, die Jazz oder Filmmusik komponiert und nicht aus Europa oder Nordamerika stammt. Schön fand ich auch, dass die Illustratorin Chiara Jacobs sich explizit dafür entschied, die Illustrationen divers zu gestalten:
Aus den 250 Komponistinnen habe ich gemeinsam mit dem Autoren 20 ausgesucht, um diese zu portraitieren. Dabei habe ich meinen Fokus auf die Diversität gerichtet und bewusst einige Künstlerinnen augesucht, die queer, trans oder People of Color sind, da nicht-weiße, nicht-westliche und auch nicht-cis-heteronormative Stimmen besonders in der Welt der klassischen Musik unterrepräsentiert sind.
Alles in allem: perfektes Last-Minute Geschenk für alle Musikliebenden und Feminist*innen und überhaupt jede Person, sogar die, die nicht gerne lesen. (Es sind genügend Illustration vorhanden, ebenso wie Playlists und Videos.)
Vielen Dank an den Verlag für das bereitgestellte Rezensionsexemplar! Du kannst das Buch hier bestellen oder direkt in deiner liebsten inhabergeführten Buchhandlung kaufen :)